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Von Cuxhaven nach Otterndorf

Freitag, 11. Dezember 2020

Seeve: Von Wehlen nach Over

Lüneburger Elbnebenfluss #3: Die Seeve

Der dritte Fluss im Bunde ist ein kurzes, kurioses Gewässer der Gegensätze.


Der Seeveradweg ist eigentlich ein Rundweg, und noch eigentlicher sind das drei zusammenhängende Rundwege. Deswegen steht auf den Schildern unter dem blauen S immer Ring 1, Ring 2 oder Ring 3. Ich bin immer nur die Hälfte der Ringe gefahren, und außerdem (wie schon bei der Luhe und Ilmenau) in die andere Richtung als vorgesehen. Bei den Lüneburger Elbnebenflüssen war ich irgendwie in rebellischer Stimmung...

Der Quellgrund der Seeve ist ein stiller Teich im Wald. Wo genau das Wasser heraussprudelt, ist nicht ersichtlich. Nicht die krasseste Quelle, sondern vermutlich die ruhigste.

Dorthin führt ein holpriger Pfad, neben dem der ausgetrocknete Rehmbach fließ, ein weiterer Quellfluss.

Die Seeve möchte erst einmal beweisen, dass sie ein echter Heidefluss ist. Deshalb gelangte ich zuerst auf einem echten Lüneburger-Heide-Sandweg durch einen echtes Lüneburger-Heide-Bauerndorf und eine echte Lüneburger Heidefläche. Das Dorf heißt Wehlen, die Heidefläche Wehlener Heide.
Die Karte weist mich extra darauf hin, dass ich mich nicht wundern soll, falls nackte Menschen herumlaufen, denn hier in der Nähe beginnt ein Nacktwanderweg. (So etwas gibt es in Deutschland nur hier und im Harz.) Es hat mich nicht wirklich gewundert, dass den bei ungefähr 4 Grad Lufttemperatur niemand genutzt hat.

Mit ganzjährig 6 bis 8 Grad ist die Seeve nicht viel wärmer. Damit ist sie Norddeutschlands kältester Fluss - nur die eisigen Gletscherflüsse im Süden können die Seeve übertrumpfen.
Der Heideweg führt zur Straße, wo ich den Fluss zum ersten Mal in seiner voller Pracht gesehen habe. Viel größer wird der auch nicht mehr.

Die Straße gehört gleichzeitig zum Wümmeradweg. Ein Stück weiter links kreuzt sie ein einsames Regionalbahngleis. Daneben erstreckt sich ein netter kleiner Park, rundherum ein paar Häuser. Diese stille Kreuzung nennt trägt den Namen Handeloh und bietet den nächsten Bahnhof an der Quelle.

An einer anderen Straße gehts weiter nach Norden. Dieser Fluss kommt wirklich fast aus dem Herzen der Lüneburger Heide - jedes Dorf hat hier seine eigene Heidefläche. Auf meinem Weg sehe ich noch die Heide von Inzmühlen.

Die Seeve ist nicht nur besonders kalt, sondern auch besonders schnell. Das muss man natürlich ausnutzen, und deswegen stehen hier lauter Wassermühlen. An der nächsten Querstraße entdecke ich die Mühle Holm. Wie die Historiker sagen: Sie wurde erstmals 1615 erwähnt. Mit anderen Worten: Keine Ahnung, wann die gebaut wurde, aber definitiv irgendwann vor 1615. Das heutige Mühlrad hat die Mühle 1981 als Update bekommen. Weil es so jung ist, mahlt die Mühle an manchen Mahltagen noch.
Der Leine-Heide-Radweg, ein alter Bekannter aus dem Süden, führt auch durch Holm.

Auf dem nächsten Streckenabschnitt ist die Seeve ein bisschen zu sehen. Sie schlängelt sich relativ ungezähmt über die Weide. Noch. An ihrem Ufer leben Ochsen im Matsch.

Im Stadtgebiet von Jesteburg durfte ich dann kurz ganz dicht an die Seeve heran, musste dafür jedoch einigen Spaziergängern mit Hunden ausweichen.

Das Zentrum von Jesteburg ist der Niedersachsenplatz. Er besteht aus Bäumen, Balken, Ziegeln und Reetdächern, die zusammen ein historisches Ensemble aus Bauernhäusern bilden. In einigen der Bauernhäuser befinden sich geöffnete Bäcker, denn Jesteburg ist der mit Abstand lebendigste und ansehnlichste Ort an der Seeve.


Die Seeve ist nun nicht mehr so kurvig. Sie fließt unter einem Brückenbogen durch, der eine größere Bahnstrecke trägt.

Den Nebenfluss Schmale Aue überquerte ich auf einer nicht ganz so beeindruckenden Brücke.

Dann bin ich auch schon am dritten Radwegring angekommen. Diesmal wollte ich nicht der kurzen und geraden, sondern der längeren Hälfte des Radwegrings am linken Ufer folgen. Sonst hätte ich einige interessante Dinge verpasst.

Die Wälder lösen sich auf und die Lüneburger Heide ist zu Ende, stattdessen irrte ich durch ein Netz aus Ackerwegen. Dass ich mich der Elbe näherte, konnte ich daran erkennen, dass ein Schaf meinen Weg blockierte, wie damals auf meiner allerersten Radreise am Elberadweg. Ich denke, es wollte mich nur auf folgendes hinweisen: "Du fährst in eine Sackgassäääh!"

Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen fand ich den richtigen Feldweg zu den Reihenhäusern von Hittfeld.

Hittfeld ist einer jeder Orte, wo sich die offizielle Radroute dermaßen kreuz und quer durch das Straßennetz schlängelt, dass ich die Orientierung irgendwann aufgebe, einfach den Schildern folge und hoffe, dass keins verdreht ist oder fehlt. Auf diese Weise bin ich am Pastor-Bode-Teich am Stadtrand rausgekommen, habe ihn umfahren und dann war Hittfeld irgendwann zu Ende. Wurde auch Zeit - langsam begann es zu dämmern und ich wollte noch etwas vom Rest der Strecke sehen.

Im Norden Niedersachsens sind viele Bahnhöfe nach folgendem Prinzip aufgebaut: Viele Treppen, kein Aufzug, zwei Gleise und dazwischen ein Bahnsteig, der gefühlt 40 Zentimeter breit ist. Solange die Leute vom Fahrtwind der Züge nicht weiter als zehn Meter mitgerissen werden, gilt ein Bahnsteig laut dem niedersächsischen Bauordnungsrecht als breit genug. Möglicherweise wird da mit neuer Technologie experimentiert, wie man Menschen mittels Windstößen befördern kann.
Trotzdem gibt es ein paar Gemeinden südlich von Hamburg, die aus ihren suboptimal aufgebauten versifften Bahnhöfen etwas Tolles gemacht haben: Bunte Bahnhöfe. Das bedeutet, das komplette Gebäude ist von innen vollgehängt mit Bildern, damit von den schmierigen beigefarbenen Fliesen möglichst wenig zu sehen ist.


Der Bahnhof in Hittfeld wurde von Menschen verschiedenen Alters, insbesondere Jugendlichen, Senioren und Behinderten, zum Thema Seevetal gestaltet. Das ist ein weites Feld, denn das Seevetal ist sowohl eine Landschaft als auch eine Gemeinde, zu der auch Hittfeld gehört. Von Kinderzeichnungen über politische Protestbildern gegen Umweltzerstörung, Grafitti, Landkarten und Kohlezeichnungen (glaube ich) bis hin zu richtig echten Landschaftsgemälden ist alles dabei.
Ganz ehrlich: Für mich als Laien hatte dieser Bahnhof denselben Mehrwert wie ein Museumsbesuch. Ich fand ihn auch besser als den Bunten Bahnhof in Maschen - selbst wenn pubertierende Kritiker auf einigen der Werke mit Edding nicht jugendfreie Kunstkritik hinterlassen haben.

Und nun macht die Seeve einen fatalen Fehler. Sie nähert sich der Metropole Hamburg - und gerät mitten ins Kreuzfeuer ihrer großen Verkehrsprojekte. Der Fluss wird begradigt, kanalisiert, in Tunnel gehüllt und versteckt.
Mehrere Autobahnen treffen hier aufeinander und bilden über der Seeve ein Muster aus Autobahnkreuzen. Ich fahre unter insgesamt drei Autobahnen durch.

In Maschen ragt dann ein großer Wall auf. Zunächst ist nicht genau zu erkennen, was sich da oben verbirgt, nur ein rätselhaftes Leuchten und Quietschen dringt durch die Bäume. Sobald die Seeve auf den Wall trifft, verschwindet sie in einem 600 Meter langem Tunnel. Neugierig folgte ich ihr ein Stück...

...und auf einmal war ich im Dunkeln verschwunden. Völlig überrascht stellte ich fest, dass man der Seeve auf ihrer unterirdischen Strecke folgen kann, die Karte verrät nämlich nichts davon. Dadurch habe ich mir einen ordentlichen Umweg gespart und die Strecke doch noch bei Tageslicht absolviert. Der rechteckige Betontunnel hat allerdings eine niedrige Decke, ist völlig unbeleuchtet und je nach Nervenstärke ein bisschen oder sehr unheimlich. Wer mit Klaustrophobie hineinfährt, könnte die unangenehmsten 600 Meter seines Lebens erleben. Wer ohne Helm hineinfährt, könnte mit einer Beule am Kopf wieder herauskommen. Und wer ohne funktionierendes Licht dort reinfährt, könnte einen Teil der 600 Meter unfreiwillig treibend in der Seeve zurücklegen.

Mehrere Treppenaufgänge führen an der Seite des Tunnels nach oben. Alle waren verrammelt - bis auf einen. Die Treppenstufen enden in einer gottlosen Gleisgegend (einer Gleiswüste, wie Modellbahner sagen würden). Einige Güterzüge zuckeln in der Ferne dahin, ansonsten: Gleise, Gleise und noch mehr leere Gleise bis zum Horizont.

Das ist der Rangierbahnhof Maschen, der zweitgrößte der Welt. Des nachts ist er an seinen vielen Lampen zu erkennen und sieht wesentlich stimmungsvoller aus als bei Tag. Am Rande hängt auch ein kleiner Passagierbahnhof dran.

Auch der Bahnhof Maschen ist ein Bunter Bahnhof, diesmal zum Thema Reisen, allerdings ist er nicht ganz so reichhaltig mit Bildern ausgestattet. Das Wort Reisen assoziieren die Jugendlichen, Senioren und Behinderten von Maschen offenbar vorwiegend mit exotischen afrikanischen Tieren wie Löwen. Der regionale Bezug ist dabei deutlich geringer als beim Thema Seevetal - sollte man zumindest meinen. In Wahrheit haben Löwen aber durchaus ein bisschen was mit der Seeve zu tun.

Als nämlich in den 1970ern der Rangierbahnhof erbaut wurde, musste eine Menge Torf, Sand und Gestein weg. Das wurde mit solchen Maschinen einfach auf die Wiese nebenan geschmissen.

Jahre vergingen, und auf dem trockenen, nährstoffarmen Boden am Ufer des Steller Sees machten es sich Magerrasen, Dornenbüsche und Eisvögel bequem, allerdings (noch) keine Löwen. Eine Marschlandschaft direkt vor Hamburg hatte sich in etwas verwandelt, das der Serengeti ähnelte. Fans des gepflegten Wortspiels müssen dieses Gebiet allein schon wegen seines Namens lieben: Die Seevengeti.


Gleich nebenan liegt noch das Naturschutzgebiet Untere Seeveniederung, das bekannt ist für die Schachbrettblume, die an ihrer Blüte einen natürlichen rechten Winkel aufweist. Deshalb wurde sie vermutlich fast ausgerottet, weil die Menschen das Monopol auf rechte Winkel haben wollten.

Zwischen diesen beiden Landschaften bin ich der Seeve auf ihrem niedrigen Deich gefolgt. Am Horizont ist bereits ein deutlich höherer Deich zu erkennen.


Es dauerte noch eine Weile, bis die Seeve endlich auf den großen Deich trifft und darin verschwindet. Auf den letzten Metern wird der Fluss noch mit einem Schöpfwerk zugepfropft. Bei Hochwasser schöpft es das Wasser über den Deich...

...und ab in die Elbe. Weiden und Schilf säumen den schönen Uferweg, sodass diese Mündung besser aussieht als die der Ilmenau, die nur wenige Kilometer weiter östlich zu finden ist.
Die Seeve ist auf nur 40 Kilometern vom Herzen der Lüneburger Heide zum zweitgrößten Rangierbahnhof der Welt bei Hamburg gereist. (Meine Fahrstrecke war etwa 55 Kilometer lang.) In der Nähe von Over heißt es dann in den Worten von Wolfgang Schäuble: "Isch over!"

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